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Diagnose Kurzdarmsyndrom - Sarahs Geschichte
Augen über das ganze Gesicht. Eisblau, aber ohne Frösteln. Warm. Wach. Glasklar. Zum darin abtauchen. Ein bisschen herausfordernd. So groß, als wollten sie alle Wunder dieser Welt auf einen Blick entdecken.
Vermutlich will sie genau das. Denn sie hat gelernt, dass das Leben endlich ist. Dass man Träume alsbald verwirklichen muss, auch wenn das Kampf bedeutet. Das ist eine der Weisheiten, in die sie ihre Wunden verwandelt hat. Sarah ist Mitte 20, Ihr Dünndarm misst noch 90 Zentimeter. Ihre Liebe zum Leben, ihre Lust auf Abenteuer, ihre Neugier, ihr Wille, das Allerbeste aus ihrem Leben herauszuholen, sind unermesslich.
Sarah ist eine Patientin. Und sie ist eine Traumkämpferin.
Sie kämpft für ihre Träume. Und ihre Träume geben ihr Kraft zu kämpfen. Manchmal muss sie dazu gar nicht alle Stärken ausspielen. Manchmal reicht die Zuversicht, dass nach dem Rückschritt auch wieder der Sprung nach vorn kommen wird. Und den gilt es zu genießen.
Alles beginnt mit einer Blindarmentzündung, als Sarah 8 Jahre alt ist. Bei einer scheinbar harmlosen Appendizitis-OP entnehmen die Ärzte ihr ein Divertikel – mit unvorhergesehenen Folgen. Es bilden sich Verwachsungen, die zu einem Darmverschluss führen. Ein Teil des Darms muss entnommen werden. Ab jetzt ist klar, dass sie zu diesen massiven Adhäsionen neigt.
Acht Jahre lang bleibt alles ruhig. Als Sarah 16 ist, geht es ihr plötzlich schlecht. Sie leidet an Verstopfungen. Gutartige Tumorzellen hatten zu Darmverschlüssen geführt, sodass die Ärzte ihr ein Stück Darm herausnehmen und wieder einsetzen.
Es kommt noch schlimmer. Sarah entwickelt eine Candidasepsis, eine Komplikation mit sehr hohem Sterblichkeitsrisiko – gerade bei Intensivpatienten. Doch Sarah streckt der Statistik die Zunge raus.
Sie überlebt. Wieder acht Jahre später, 2018, muss sich Sarah insgesamt zwei weiteren Operationen im Bauchraum unterziehen. Ab jetzt muss sie parenteral ernährt werden.
Ihr Dünndarm misst nur noch einen Meter. Kurzdarmsyndrom.
Auf den langen Krankenhausaufenthalt folgen fünf Wochen Reha, in denen sie lernt, mit der neuen Ernährungsform umzugehen und wieder zu Kräften kommt. Nach der Operation leidet sie unter einer Lähmung im Bein, die sie langsam überwindet.
Jetzt nimmt Sarah sich vor, keinen Augenblick mehr zu verschwenden. Sie feiert jeden Schritt zurück ins Leben: Wieder laufen können. Wieder Schwimmen gehen. Wieder in die Berge fahren…
Sarah will ihr Leben zurück. Sie beendet die Schule und absolviert eine Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin. Das ist kein Beruf, sagt sie. Das ist ihre Berufung.
Mit Kurzdarmsyndrom arbeitet sie auf der Neonatologie, wann und wie es ihre Gesundheit zulässt. Aktuell 60 %, viereinhalb Stunden, 4 Tage die Woche, ein Wochenende im Monat. Früher war sie sogar oft 10 Stunden auf der Station, inklusive Früh-, Spät- und Nachtdienst.
Heute ist sie nach der Arbeit oft erschöpft und legt sich nur noch schlafen. So wie viele Krankenschwestern und Pflegekräfte das auch tun – ohne Kurzdarmsyndrom…
Manchmal geht der Rollentausch schnell und sie wird von der Kinderkrankenpflegerin zur Patientin.
Das Team steht hinter ihr. Dennoch orientiert sie sich neu. In Zukunft wird sie sich stärker in der Ausbildung von Pflegefachkräften engagieren. Denn wenn sie wirklich ausfällt, ist das im turbulenten Klinikalltag leichter zu organisieren.
“Ich freue mich auf die neue Aufgabe und finde es großartig, dass ich mein Wissen weitergeben kann. So ergibt alles einen Sinn.”
Weitergeben wird sie nicht nur ihre Expertise als Krankenschwester. Weitergeben wird sie sicher auch ihre Erfahrung als Patientin. Weil es ein Unterschied ist, ob man sagt „Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen.“ Oder ob man selbst schon in der Situation war.
Sie kennt auch die andere Seite. Die, die im Bett liegt oder am Bettchen sitzt. Die, die Angst hat und Schmerzen und Sorgen. Und deshalb tut sie alles, um die Zeit auf der Station für Eltern und Kinder so angenehm wie möglich zu machen. Ihren Traumberuf auszuüben, einen – nein ihren – Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, ist für Sarah von unschätzbarem Wert. 2020 stellt sie einen Antrag auf teilweise Erwerbsminderungsrente. Ihr würde eine volle Erwerbsminderungsrente zustehen, doch Sarah möchte unbedingt weiterarbeiten.
Am 7. April 2020, während Menschen in der ganzen Welt auf Balkonen stehen und für Sarah und ihre Kolleg*innen Beifall klatschen, wird ihr Antrag abgelehnt.
Nicht, weil sie zu wenig Einschränkungen hat. Von den 60 Monaten, die für die Auszahlung erforderlich sind, hat Sarah nur 58 erfüllt. Ironie des Systems: Für die volle Erwerbsminderungsrente wäre die Wartezeit aufgrund einer Sonderregelung irrelevant gewesen.
Sarah fühlt sich bestraft: für ihre Liebe zu ihrem Beruf, ihren Fleiß, ihr Engagement und ihren Wunsch, etwas zu geben. Auf ihrem Instagram-Kanal (sarah.m.he) teilt sie Ihre Verzweiflung in einem emotionalen, bewegenden Video. Mehr als 133.000 mal wird es aufgerufen. Sarah startet daraufhin eine Petition und kämpft.
Sarahs parenterale Ernährungssituation variiert stark. Wenn Sie arbeitet, sind ihre Tage streng strukturiert. Alle 3 / 3,5 Stunden essen, 5 bis 6 Mahlzeiten pro Tag.
Es gab Zeiten, da brauchte sie die Infusionen nicht einmal täglich. Sie hatte schon gehofft, bald keine Parenterale Ernährung mehr zu benötigen. Doch jetzt hat sie wieder verstärkt akute Phasen und Komplikationen.
Durch die fehlende Klappe zwischen Dünn- und Dickdarm wandern die Bakterien von einem Darmabschnitt in den anderen. Die Fehlbesiedelung löst eine D-Laktat-Azidose aus. Das bedeutet, dass die Kohlenhydratkonzentration nach dem Essen extrem ansteigt und neurologische Symptome auslöst.
Die Lösung der Ärzte: Sarah soll eine kohlenhydratarme Diät einhalten, sich am besten nur durch die Infusionen ernähren.
“Gummibärchen und Eis, das war immer so eine Freude im Leben. Zu verzichten fällt mir schon sehr schwer.”
Sarah hat schon so vieles geschafft. Sie wird auch das schaffen. An Einschränkungen ist sie gewohnt.
Paravasat, Okklusion, geplatzter implantierter Schlauch, Sepsis. Seit 2018 hat Sarah einen Port und inzwischen gibt es leider kaum eine Komplikation, die sie nicht schon durchgemacht hat. Die Löcher, die diese Extremsituationen in die Seele reißen, lassen sich nicht einfach zunähen wie ein offener Bauch.
Meist verschwinden die Narben hinter ihrem Lächeln und diesem unfassbar offenen Blick. Doch durch die schmerzhaften Behandlungen und wiederholt lebensbedrohlichen Komplikationen leidet sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
In der Therapie hat sie gelernt, wie sie mit Flashbacks umgehen muss: sich erden, alles anfassen, was in ihrer Umgebung ist, hilft, wenn sich Erinnerung und Fantasie gegen ihr Geborgenheitsgefühl verbünden.
Was sie auch gelernt hat: sich nicht einschüchtern zu lassen. Ihre Angst, als zickige, hypochondrische Patientin abgestempelt zu werden, bezahlte sie bereits mit einer Blutvergiftung. Seitdem weist sie Pflegekräfte auf Gefahren hin. Schließlich hängt ihr Leben davon ab.
Die wohl wichtigste Weisheit, in die sie ihre Wunden verwandelt hat, ist die, dass man Zaudern am Ende möglicherweise mit unerfüllten Träumen bezahlt.
Weil das Leben kurz ist. Verlängern geht nicht. Aber komprimieren. Intensiver genießen. Banales ausblenden. Sich im Moment verlieren. Fühlen. Schneller leben. Im „Jetzt“. Nicht im „Vielleicht irgendwann“.
Wenn es sowas gibt, wie das „Licht der Erkenntnis“, dann scheint es durch die Risse im Leben.
Sarah gelingt es, dem Alltag immer wieder ihr Stückchen Normalität und Erlebnis abzutrotzen. Die Berge sind für sie Kraft- und Zufluchtsort. Hier fährt sie Snowboard oder wandert.
Wenn der Weg steiler wird und es ihr den Atem verschlägt, hat sie Menschen an ihrer Seite, die ihr helfen, ihren Rucksack zu tragen. Denn mit Freunden und Familie kommt man höher hinaus. Dahin, wo die Welt kleiner wird, die Perspektiven grenzenlos sind und der Kopf schon fast den Himmel berührt.
Im Sommer war Sarah so auf der Gerlitzen Alpe. Dass das ohne PE nicht möglich wäre, weiß Sarah. Und – so sehr sie sich wünscht, irgendwann frei von den Infusionen zu sein, so sehr schätzt sie die Spielräume, die ihr die Ernährung über den Port eröffnen.
Auch Schwimmen und Wakeboarden liebt sie. Um Infektionen vorzubeugen, wagt sie den Sprung ins Wasser allerdings nur, wenn der Port nicht angestochen ist. Der Sprung vom Berg geht immer.
Der Schritt in die Zukunft ist für Sarah ein Schritt in den nächsten Traum. Fuß nach vorn und schauen, ob der Traum trägt.
Sarah hofft auf die Forschung und den medizinischen Fortschritt. Es ginge ihr viel besser, wenn sie die Klappe zwischen Dünn- und Dickdarm noch hätte. Wer weiß, vielleicht kann man die eines Tages künstlich herstellen, wie eine Herzklappe?
Eine Darmtransplantation?
War bislang kein Thema. Eine Darmtransplantation kann zu hohe Risiken bergen. Die Gefahr einer Abstoßungsreaktion ist groß, denn im Dünndarm befinden sich viele Zellen, die für das Immunsystem verantwortlich sind. Und für eine Darmtransplantation ist ihr Gesundheitszustand tatsächlich auch glücklicherweise viel zu gut.
Die parenterale Ernährung?
Sarah hofft, vielleicht irgendwann mit weniger Infusionen auszukommen, oder sogar ohne den Port. Aber auch mit Rucksack am Rücken ist sie fest entschlossen, weiter ihren Träumen hinterherzujagen.
“Ich versuche, so viele Träume wie möglich wahr zu machen. Mein Chefarzt hat damals gesagt: Sarah, Du kannst alles erreichen, was du willst. Das stimmt auch zu 90%. Wenn man kämpft, wird man belohnt.”
Wenn Sarah sich vorstellt, sie sei ihre eigene Kinderkrankenschwester gewesen, würde sie sich an das Bett der 16jährigen setzen und ihr sagen, was sie heute weiß:
„Es geht immer weiter. Verfolge deine Träume. Es gibt schlechte Tage. Genieße die guten so intensiv du kannst. Ignoriere deine Krankheit nicht. Setze dich damit auseinander. Aber danach: mach weiter. Verliere nie die Hoffnung. Alles hat seinen Grund, so wie es passiert.“
Ihre Mama sagte: „Wer nicht stark ist, kriegt solche Aufgaben nicht gestellt.“ Sarah ist stark genug. Sie kämpft. Und wo Kampf ist, ist auch Stärke. Stärke, sich Träume zu erfüllen.