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Stoma – Meine Geschichte
Schlösse man die Augen und ließe sich blind in ihre Erzählung fallen, dächte man wohl, einer Frau weit jenseits der 40 zuzuhören. So viel Weisheit, so viel gelebtes Leben spricht aus ihren Worten. Wäre da nicht diese Stimme. Diese Mitte-Zwanzig-Tonlage und manchmal auch diese Mitte-Zwanzig-Wortwahl.
Wenn so junge Menschen so viel Klugheit in sich tragen, ist das nicht unbedingt ein Hinweis auf Leichtigkeit. Lisa sitzt da. Jung. Strahlend. Offen. Wach. Ihre ganze Power entlädt sich in ihrem rechten Bein, das fortwährend wippt, als wollte es sagen: „Hey, genau in diesem Moment könnte ich auch tanzen, rennen wie Flash oder das Gaspedal durchtreten, solange bis ich am Meer bin.“
Sie selbst also: in Bewegung, unterwegs. Eines Tages will sie ankommen, sagt sie. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Ihre Geschichte ist bewegend. Aufrührend. Partiell empörend. Lehrreich. Inspirierend. Lisa schlagen die Dinge in der Regel auf den Magen. Das ist schon immer so. Lange denkt sie, ihre Übelkeit hätte eine harmlose Ursache. Ein Magen-Darm Infekt. Eine Unverträglichkeit, eine Überempfindlichkeit. Irgendetwas, das vorbeigeht. Irgendwas, das wieder gut wird. Bis irgendwann nichts mehr geht, sie nichts mehr bei sich behält, nur noch spuckt. Ihre Hausärztin hat eine Vorahnung und schickt sie zum Spezialisten.
„Morbus Crohn“, sagt der. „Ah ja.“, denkt sie. Was die Diagnose bedeutet, begreift Lisa zunächst nicht wirklich. Das war im Jahr 2011.
Lisa lebt weiter. Schnell und rastlos und suchend, wie sie eben ist. Sie illustriert Bücher und beginnt ihre Ausbildung zur Mediengestalterin in Hamburg, pendelt jedes Wochenende nach Hause. 150 Kilometer hin. Familie sehen. Freunde treffen. Tanztraining. Lernen. Gestalten. Ihre Social-Media-Kanäle befüttern. Feiern, wenn es möglich ist. 150 Kilometer zurück. Es geht ihr oft schlecht. Ihr Crohn ist launisch und unbarmherzig.
Ihr Arbeitgeber ist unbarmherziger. Er kennt die Diagnose, hat jedoch weder Verständnis noch Einsehen. Immer wieder fordert er Anwesenheit. Untersagt Arztbesuche. Übt Druck aus. Sie ihrerseits übt sich in Disziplin. Zeigt auch kein Einsehen mit sich. Denn sie weiß, wie wichtig die Ausbildung für ihre Zukunft ist. Mit einer unglaublichen, einer fast fatalen Leidensfähigkeit zieht sie Schule und Ausbildung durch.
Man merkt ihrer Stimme die Fassungslosigkeit von damals an, dieses Nichtglaubenkönnen angesichts der Chuzpe des Arbeitgebers. Ihre körperliche Verfassung, Ihre Jugend und der Druck, den sie auf sich selbst ausübt, dieses Unbedingtschaffenwollen machen jede Gegenwehr unmöglich.
Heute sagt sie, dass diese Zeit, in der ihr die Ausbildung und die Krankheit fast Übermenschliches abverlangten, letztendlich zu ihrem Stoma führten. Sie mobilisierte alle Reserven. Woher sie sie nahm, kann sie in der Rückschau nicht mehr sagen. Sie waren einfach da, diese Hulk Kräfte. Diese Größe. Dieser Mut, jede Herausforderung anzunehmen. Und dieser unbeugsame Wille das Beste daraus zu machen und ihr ureigenes Schicksal zu meistern. Und dieser Glaube an sich selbst. Alles wird gut.
Um welchen Preis hat sie sich durchgebissen? Sich gleichsam selbst aufgezehrt, bis kaum noch 40 kg von ihr übrig blieben? Vielleicht wäre es nicht so weit gekommen, hätte sie auf ihren Körper gehört, mutmaßt sie. Hätte sie den Mut gehabt, die Ausbildung lockerer zu nehmen. Hätte sie nicht diese Hulk Kräfte entwickelt. Aber dann wäre sie nicht die Lisa, die sie ist.
Dennoch rät sie allen Menschen, gesund oder nicht, achtsam mit sich umzugehen. Die Lisa von heute tut das. Sie passt auf sich auf.
Irgendwann verspürt Lisa das Bedürfnis, sich mitzuteilen und wählt dafür das wohl größtmögliche Forum. Das Internet. Im November 2015 schreibt Lisa einen Post von solcher Intensität, dass man beim Lesen auch heute noch Gänsehaut bekommt. Zwischen den Zeilen steht weiß auf weiß in leichtem Schriftschnitt, wie schlecht es Lisa eigentlich geht. Mittlerweile ängstigt sie das Essen. Denn jeder Millimeter, den die Nahrung in ihrem Körper passiert, verursacht unerträgliche Schmerzen. So unaushaltbar, dass sie schließlich selbst um den künstlichen Darmausgang bittet.
Wie fragil dieser Mut ist und wie sehr er der Verzweiflung geschuldet ist, teilt sie Ende August 2016.
“Manchmal zwingt dich dein Körper in die Knie zu gehen und du kannst nichts machen, außer zu versuchen, dagegen anzukämpfen. Aber auch die stärksten Krieger müssen sich irgendwann geschlagen geben. Morgen heißt es, der Wahrheit in die Augen zu blicken. Diverse Optionen und Entscheidungen zu treffen, die mein Leben verändern werden. Ich fühle mich vorbereitet, aber gleichzeitig so klein und stumm.”
Bei ihrem behandelnden Arzt muss sie keine Überzeugungsarbeit leisten. Alles geht jetzt sehr schnell. Am 14. Oktober 2016 postet Lisa ein Bild auf Instagram. Darauf ein Bild ihres Torsos im T-Shirt. Sie lüftet es ein wenig, so dass man ihre Stomaversorgung sehen kann. Daneben schreibt sie:
„Darf ich vorstellen; Willy, mein Lebensretter ❤ und ja, ich lüfte heute eins meiner treusten Geheimnisse aber es ist an der Zeit Zeichen zu setzen. Für andere. Für mich. Und obwohl ich stolz bin, ihn zu tragen habe ich so großen Respekt davor, was ihr dazu sagt. Wie andere darauf reagieren. Aber ich möchte Mut schenken, denn Schönheit kommt von innen. Solange du...du bleibst. Denn du bist schön so wie du bist und das kann kein Beutel, keine Narbe, keine Krankheit jemals ändern.“
Am gleichen Tag postet Lisa auf Facebook, dass sie ihre Design-Website www.unbreakableart.de ab sofort ihrem Lebensthema widmet: Morbus Crohn. Hier will sie eine Plattform schaffen, auf der „ich meine Gedanken kreisen lasse und anderen Betroffenen Mut sowie Lebensfreude schenken möchte.“
Lebensfreude empfindet Lisa nicht trotz, sondern wegen ihres Stomas. Willy – ihn beim Namen zu nennen, macht das Stoma zu einem Vertrauten, ja Verbündeten – verändert alles. Zum Besseren. Lisa kann wieder am Leben teilnehmen. Wieder essen. Weniger Schmerzen. Mehr Planbarkeit. Und Kraft für Ihre kreativen Projekte. Die Posts auf Ihrer Seite tragen so unterschiedliche Titel wie „Think positive“ und „So it feels every damn day.“ Sie erklärt. Sich und ihr Stoma und ihre Krankheit. Zeigt sich lächelnd und tapfer. Zieht ihr Lächeln an, wann immer es möglich ist.
Die anderen Momente, die weniger fröhlichen, lebt Lisa auf Instagram aus. Ihr Account ist so vielfältig wie sie selbst. Laut und leise, schrill und still, avantgardistisch und etabliert, mal bunt, mal blanc sur noir, aber immer sie selbst, immer in Bewegung, offen, wach ... Sie zitiert Henri Cartier-Bresson:
“„Fotografieren, das ist eine Art zu schreien, sich zu befreien (…) Es ist eine Art zu leben.“”
Das Leben hat viele Seiten. „Ihr Crohn“, wie sie sagt, gehört zu ihr. An ihm ist sie gewachsen, hat sich selbst und ihre Kunst entwickelt, festgehalten, losgelassen, ist gefallen, aufgestanden, hat Hulk-Kräfte gesammelt und wie Iron Man fliegen gelernt.
Oft kam vor dem Flug ein Fall. Ihre Geschichte hat Lisas neue Perspektiven eröffnet, mal ganz von unten, mal als Top-Shot. Dazwischen nur manchmal Augenhöhe. Sie hat sich Ihren Körper neu erschlossen, ihm angenähert, vertraut gemacht. Sie hat ihre Grenzen ausgelotet, akzeptiert, um sie dann doch wieder weiter und weiter zu stecken. Sie hat sich ausprobiert und entdeckt, was ihr Kraft gibt und was ihr Kraft raubt. Sie hat gelernt, sich Raum und Zeit zu nehmen. Sich zu schützen. Sie hat gekämpft, gezweifelt, die Hoffnung hochgehalten, das Restlicht gebündelt, Feuer entfacht, Sinn seziert und ihr Leben palpiert. Bis sie all das für sich verpacken konnte.
Ihr Learning: Momente retten Leben – die sonnigen, glücklichen, innigen, luftleichten rotweißgestreiften Rettungsringmomente, an denen man sich festhalten kann, wenn die See rauer wird und die Wellen höher schlagen. Sie wartet nicht mehr auf diese Momente. Sie sucht sie.
Lisa geht auf Festivals. Sie macht Sport, taucht sogar, sie lebt sich aus in ihrer Kunst, schreibt und malt und fotografiert, arbeitet, geht auf Reisen. So, als wäre nichts. Sie sagt, sie kann alles, sie muss sich nur länger vorbereiten als andere.
“Manchmal sind es ganz einfache Dinge. Mit einer Tasse Tee in der Sonne auf dem Balkon sitzen und ganz bei sich selbst sein. Mit der Familie am großen Tisch sitzen und lachen. Oder gestern, als ich zu Euch gefahren bin durch die Kasseler Berge, auf und ab und hinter jeder Kurve eine neue Perspektive, die Sonne schien – das habe ich so sehr genossen. Es ist so schön, im Jetzt zu verweilen und den Moment zu genießen, der einem geschenkt wird!”
Wir genießen den Moment, ihr zuzuhören und zu staunen. Nicht nur über ihre Weisheit. Wir staunen über diese wirklich osmiumschweren Zeiten und die Leichtigkeit, mit der sie diese scheinbar pariert. Touché, liebes Leben. Sie lächelt. Sie wirkt so leicht, dass man denkt, sie braucht die Beine nicht, die schon wieder wippen, als wollten sie tanzen.
Aber jetzt wissen wir: Sie könnte auch fliegen.