Wenn die See der Leuchtturm ist
4 Himmelsrichtungen zeigt sein Kompass plus diverser Zwischen-Kurse. 9,50 m misst sein Boot von Bug bis Heck, 5 m die Festmachleine. 85 cm lang ist sein Darm. Nicht viel mehr als der Durchmesser eines Rettungsringes. Das ist alles.
Sein Sonar zeigt dennoch stets mehr als nur eine Handbreit Wasser unterm Kiel. Besonders, seit er seine Freiheit wiedergefunden hat und die Leinen immer wieder loslassen kann. Trotz Kurzdarmsyndrom.
Ein kleines Dorf in Ostfriesland. Die idyllische Landschaft ist durchzogen von einem weitläufigen Kanalnetz. Wer hierher kommt und nicht nur auf der Durchreise ist nach Borkum oder Juist, sucht Erholung und innere Ruhe. Auch Manfred hat hier in seiner Heimat innere Ruhe gefunden. Er hat das Kurzdarmsyndrom. Und das hält ihn längst nicht mehr davon ab, sein Leben am Meer zu genießen.
Wellengang: Diagnose Morbus Crohn
Als er 16 Jahre alt ist, wird bei Manfred Morbus Crohn diagnostiziert. Der Teenager versucht, weiterzuleben, als wäre alles in Ordnung. Er absolviert eine Lehre als Industriemechaniker. Technik und das Basteln an Motoren liegen ihm im Blut. Es macht ihm Spaß. Und auch die Ärzte geben ihm zunächst wenig mit auf den Weg, das ihm zu Bedenken gibt. Manfred soll versuchen, weitgehend auf Zucker zu verzichten. Mehr nicht.
SOS: Ignorieren ist keine Option.
Schon ein Jahr später, 1985, bremsen ihn die ersten drei Operationen aus: Blinddarmdurchbruch mit Bauchfellentzündung. Darmverschluss. Wieder Bauchfellentzündung. Es folgen zehn weitere Operationen in nur 15 Jahren: Stenosen und Fisteln, die aus der Bauchnarbe kommen und Stuhl abführen. Die letzte Operation schließlich bringt ihm das Stoma – und das Kurzdarmsyndrom.
Land unter: Noch im Krankenhaus magert Manfred auf 38 kg ab.
Als er in der Klinik auf den wenigen Metern zur Toilette zusammenbricht, reagiert das Behandlungsteam: Manfred bekommt einen Port für die parenterale Ernährung, der ihm vermutlich das Leben rettet. Er ist jetzt Anfang 30.
Es dauert Wochen, bis Manfred die 250 km lange Reise nach Hause antreten kann. Er ist glücklich, wieder daheim zu sein. Pflegedienste versorgen hier seinen Port und sein Stoma. Er isst leichte Kost und holt sich zusätzliche Energie durch hochkalorische Drinks. Nachts laufen die Infusionen mit parenteraler Ernährung, um den durch das Kurzdarmsyndrom verursachten Nährstoff- und Energieverlust auszugleichen.
Doch der Katheter, der ihn am Leben hält, bringt Manfred auch in Gefahr. Immer wieder erleidet er Port-Infektionen. Erst, als er vor einem Jahr einen anderen Katheter-Typ erhält, kehrt Ruhe ein.
Wie bei vielen Menschen mit Kurzdarmsyndrom wird auch bei ihm versucht, das Darmzottenwachstum mit Hormonen anzuregen. Doch das zieht Veränderungen des Anus praeter nach sich. Die Stomaplatten passen nicht mehr. So bleiben die nächtlichen Infusionen mit parenteraler Ernährung erforderlich.
Spiegelglatte See: Sich selbst versorgen heißt Freiheit gewinnen.
Mit der Zeit glätten sich die Wogen. Seit 2005 klappt alles hervorragend. Manfred braucht keine Unterstützung mehr für die Infusionen. Pflegekräfte haben ihn ermutigt, die parenterale Ernährung allein durchzuführen. Es gelingt. Er hat seine Versorgung selbst im Griff.
„Ich musste mich überwinden. Es war nicht einfach. Teilweise habe ich mit einem Spiegel hantiert, um alles hinzubekommen. Aber diese Hilfe zur Selbsthilfe war das Beste, was mir passieren konnte. Durch sie bin ich wieder frei.“
Manfred ist heute Anfang 50. Er genießt die Lebensqualität, die ihm die zurückgewonnene Autonomie bringt. Der leidenschaftliche Bastler nutzt jede freie Minute, um mit einem guten Freund in der eigenen Werkstatt an seinen Booten zu arbeiten. Das aktuelle Projekt: Sie bauen einen selbstkonstruierten Motor.
Leinen los. Die Leidenschaften leben – mit Kurzdarmsyndrom.
Das Gefühl allergrößter Freiheit: selbst in See zu stechen. Raus, aufs Wasser. Segeln. Von Loppersum nach Borkum. Allein? Kein Problem. Das Kurzdarmsyndrom hindert ihn nicht. Überhaupt fühlt er sich nicht sehr eingeschränkt. Die Frage ist für ihn nie „ob“, sondern „wie“.
„Reisen geht für mich am besten mit dem Boot oder Wohnmobil. Der Vorteil ist, dass man alles immer bei sich hat – Küche, Toilette, Dusche.“
An der Bootswerkstatt hängt ein Schild mit der Aufschrift Ultimus Prakticus. Diesen Titel gab ihm ein bedeutender Künstler aus Emden. Er sei „eine große Ehre. Es gleicht dem Nobelpreis für äußerste Gerissenheit“, sagt Manfred stolz.
Wir verstehen, was der Künstler meint. Wem es gelingt, auf 30 Seemeilen zwischen Emden und Borkum, Null Meter über Normalnull das allerhöchste Glück zu finden, ist mehr als gerissen. Er ist lebensklug. Was bedeuten 85 cm? Das ist nur eine Zahl von vielen, an denen man sein Leben messen kann – oder auch nicht.
Am Ende bestimmt nicht der Wind den Kurs, sondern der, der die Segel setzt …
Selbstversorger in Sachen Ernährung
Seit 2005 begleitet die B. Braun Gesundheitsservice GmbH den Bootsfreund. Die Pflegekräfte halfen dem jungen Mann, sich selbst zu versorgen. Manfred sagt heute, das sei das Beste, was ihm passieren konnte.
Bei aller zurückgewonnen Freiheit, sind seine Tage eng getaktet:
20.30 Uhr | Anschluss an die Infusion |
21.00 Uhr | Abendessen |
9.30 Uhr | Anschluss des Protonenpumpenhemmers. |
Danach | Frühstück |
16.30 Uhr | Mittagessen |
Dazwischen | Schokodrinks |
Beim Essen verzichtet Manfred – auch wegen seines Stomas – auf langfaserige und blähende Gemüse wie Spargel, Sauerkraut oder Ananas. Sein Brot backt er selbst. Experimentierfreudig probiert er immer wieder zusätzliche Lebensmittel aus.
Die medizinische Betreuung haben sein Hausarzt und das UKE Hamburg übernommen. Die Apotheke beliefert ihn mit individuellen Compounding-Beuteln.
Die Infusionssysteme kommen per DHL direkt von der B. Braun Gesundheitsservice GmbH. Ebenfalls in deren Auftrag besucht ihn regelmäßig ein Patientenmanager. Der findet fast immer: Es läuft heute gut bei Manfred.
„Ohne die PE hätte ich mehr Zeit, aber keine Energie, um den Tag zu nutzen.“
7 Fragen über parenterale Ernährung, Lebensträume und Zuversicht.
B. Braun: Wenn man von außen auf Ihr Leben blickt, hat man den Eindruck, einer perfekten Idylle: Ein Haus am Wasser. Die Boote. Die Werkstatt. Das Segeln. Würden Sie sagen, dass es Ihnen gelungen ist, sich Ihre Träume trotz Kurzdarmsyndrom zu erfüllen?
Manfred: Es ist nicht immer alles Idylle. Aber: Ja! Ich habe nicht alle Träume erfüllt, aber die meisten.
B. Braun: Wenn Sie drei Dinge oder auch Eigenschaften benennen müssten, die Ihnen geholfen haben, durch die herausfordernden Zeiten bis hierher zu kommen: Welche wären das?
Manfred: 1. Meine Familie, also meine Eltern und Geschwister. 2. Freunde sind sehr wichtig. 3. Der Glaube an mich selbst, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten noch alles erreichen kann, was ich will.
B. Braun: Kleine Zeitreise in die Vergangenheit. Sie stehen kurz vor der Operation, die das Kurzdarmsyndrom mit sich bringen wird. Was wünschten Sie sich, hätte man Ihnen damals gesagt über das, was auf Sie zukommen wird?
Manfred: Dass die Parenterale Ernährung mir wesentlich mehr Lebensqualität und mehr Energie bringt, und dass es außer Infektionen noch andere Probleme geben kann. Der Katheter kann verstopfen oder der Port wird perforiert. Das ist bei mir auch schon einmal passiert.
B. Braun: Viele Menschen, die erfahren, dass sie sich langfristig parenteral ernähren müssen, sind sehr verunsichert. Sie managen die PE jetzt schon lange allein, auch als heimparenterale Ernährung. Was bedeutet die PE für Ihr Leben? Schränkt sie die Freiheit ein oder schafft sie vielleicht auch Freiheit?
Manfred: Sie macht für mich das Leben erst möglich. Ohne die PE würde ich wahrscheinlich während des Essens verhungern. Es ist meine Energietankstelle. Sie bedeutet Normalgewicht, 68 kg, kein Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen. Im Falle eines Schubes kein gravierender Gewichtsverlust.
Man hat halt ein paar zusätzliche Aufgaben morgens und abends zu erledigen. Täglich nimmt das ca. 45 min. in Anspruch. Ohne die PE hätte ich 45 min. mehr Zeit, aber keine Energie, um den Tag zu nutzen. Somit gibt mir die Energie Freiheit, mehr Kraft und Ausdauer, dadurch kann ich mehr machen.
B. Braun: Was würden Sie Menschen raten, die mit dem Kurzdarmsyndrom noch ganz am Anfang stehen? Menschen, die vielleicht gerade an ihrer Situation zu verzweifeln drohen? Womit kann man ihnen Mut machen?
Manfred: Indem man sagt, dass es eigentlich nur noch besser werden kann. Den Tag strukturieren. Durch regelmäßige Mahlzeiten zum Beispiel, kann man ein paar Zeiten erkennen, in denen das Stoma nicht fördert, um mehr Ruhe beim Beutelwechsel zu haben, oder um andere Sachen zu machen. Der Darm gewöhnt sich daran.
Ein gutes Stoma sollte jede Bewegung mitmachen, ohne sich zu lösen. Das schafft Selbstvertrauen, um wieder mehr aus dem Haus zu gehen.
Sich das Leben einfacher machen. Zum Beispiel habe ich mir erst Anfang letzten Jahres eine Toilette gebaut, bei der ich im Stehen meinen AP Beutel entleeren kann. Das hätte ich 20 Jahre früher machen sollen.
B. Braun: Es heißt ja immer, dass nichts so schlimm ist, dass es nicht doch noch sein Gutes hätte. Gibt es eine wichtige, gute Erfahrung, ein positives Erlebnis, eine besondere Erkenntnis, die Sie ohne das Kurzdarmsyndrom nicht hätten? Etwas, das Ihr Leben bereichert hat?
Manfred: 2017 in Kassel, das erste Mal vor so vielen Menschen, ca. 100 Personen, einen Vortrag über Stoma und Ernährung zu halten, war schon eine sehr positive Erfahrung, an die ich mich gerne erinnere. Es gab viel Lob und Zuspruch.
B. Braun: Was bedeutet für Sie Glück?
Manfred: Der Moment vollkommener Zufriedenheit, in allen erdenklichen Situationen. Und: Wenn man mit Fieber ins Krankenhaus geht und man hat nur eine Grippe statt wie vermutet eine Portinfektion.